Der Pfarrer, ein liberaler Holländer, ging in die Sakristei um die Nadel auf die Platte zu setzen. Aus den Kirchenlautsprechern erklang Kracks – Kracks – Kracks „Yabada, jabadadaabada… Die Sache Jesu braucht Begeisterte“. So wurde bei meiner Erstkommunion 1972 musiziert. Und so wurde wohl der NGLer in mir geboren. Zeitlebens, unterstützt von wenig spannendem Orgelspiel, sollte mir das übliche Kirchenlied ein Fremdkörper bleiben. Bis heute nerven mich gehäufte E-moll-Auslassungen an einem sonnigen Sonntagmorgen, ebenso wie Lieder, in denen die Dynamik der Auferstehung mit der Statik eines Thronhockers (= J.X.) vertauscht wird. Es nerven mich die meist nach Schnupfen klingenden Psalmodien mit ihren verschraubten Melodie-Wendungen, und ich fühle mich angegriffen, wenn ich in einer Messe zum zehnten Mal betonen muss, dass ich ein Sünder bin und nicht würdig. Der gesunde Menschenverstand frägt sich: sieht so Erlösung aus? Heißt Erlösung, dass man kein anderes Thema mehr hat als seine abgelegte Sündhaftigkeit?
Bis heute versuche ich, neue Antworten auf „Erlösung?“ zu finden. Das engagierte Neue Geistliche Lied, jenes mit der gereckten Faust, das hat mich genauso geprägt wie die literarischen Aus- und Aufbrüche von Willms und Zenetti. Im Tübinger Studium war mein „Tagesgebet“ näher bei Kafka und Jandl. Die Lieder aus der charismatischen Ecke, die ich dann in den 80er Jahren kennenlernte, bereiteten mir wegen ihrer allzu klaglosen Übernahme der liturgischen Sprache und mit ihren sentimentalen Anflügen eher Bauchschmerzen. Ich konnte da nicht landen. (Aber heute verstehe ich, warum diese Lieder für manche wichtig sind.)
Erst als ich 1992 Ruhama im Fernsehen einen Gottesdienst gestalten sah, wurde für mich Musik und Kirche wieder ein attraktives Thema; so attraktiv, dass es am Ende des Theologiestudiums immer mehr zu einer Berufsoption wurde. Zusammen mit Maria Sailer und Bernhard Lämmle verwandelte ich 1992 das „Tübinger Theologentrio“ in das „Ensemble Entzücklika“. Bis dahin hatten wir gelegentlich und anlässlich einer Begegnung mit dem Konzilsberichterstatter Ludwig Kaufmann über Papst Johannes XXIII. musiziert.
Von diesem Papst inspiriert (Dialog statt beleidigtem Wehklagen), begannen wir einen langen, und wegen der finanziellen Verhältnisse auch franziskanisch zu bezeichnenden Weg in die berufliche Selbständigkeit mit Neuem Geistlichen Lied. (Nicht zu empfehlen!) Nicht ohne Fehlstarts und Fehleinschätzungen auf Seiten der Kundschaft und auf Seiten des Autoren.
Die Kirche hat im Augenblick riesige Änderungen zu bewältigen, sowohl in der Theologie als auch in der Strukturierung ihrer pastoralen Räume. Es blieb nicht aus, dass die Blickwinkel und Interessen immer wieder auseinander fielen. Unsere Art, NGL zu betreiben, ist bis heute nicht ein Versuch, etwas Pep in die Firmpastoral zu bringen. Das Etikett „moderne Kirchenmusik“ ersetzten wir schließlich durch die Profilbeschreibung „Spiritualität und Musik“. Lange Zeit hatten wir uns nämlich zusammen mit liturgisch kompetenten Persönlichkeiten engagiert, liturgische Vorgaben und Musik zu einer Harmonie zu verbinden. Eine Art „vertieftere“ Liturgie zu betreiben.
Als aber unsere Abendgesänge, die anfänglich noch eine Komplet waren, sich begannen, aus den Rückmeldungen der Leute neu zu organisieren und als die heißen Themen der Leute schließlich die Vorgaben aus dem liturgischen Kalender verdrängten, hatten wir „unser“ Thema gefunden: Die Begegnung mit dem Auferstandenen! Mit therapeutischen Blickwinkel! Nicht die Verherrlichung von Liturgie (Es lebe das Chorgestühl und der heilige Rest und seine musikalische Sonderwelt!). Ich staunte nicht schlecht, wie viele der NGL’s, die sich durchgesetzt haben, sich trotzdem nicht für ein Musizieren im therapeutischen Kontext eignen. Es musste nicht noch mehr neues Neues Geistliches Lied her, sondern anderes; na ja, und dann doch auch wieder noch Neues. Dadurch veränderten sich meine Liedtexte, meine Kommunikationsrichtung, die Leidenschaften hinter den Texten. Die Begegnung mit dem Auferstandenen richtet nun den Blick nach vorne, es geht um Überlebenskunst, nicht um das „Zelebrieren“ vergangener Sünden oder aktueller Lebensblockaden.
Jetzt hatte ich auch „mein“ eigenes Thema, meine Kommunikationsplattform, meine Autorität, meine (biblisch gesprochen) „Vollmacht“.
Natürlich nehme ich wahr, dass meine Art zu texten, zwischen die Zeilen zu texten, Wortfelder zu erweitern, im kirchlichen Umfeld zum Teil sauer bis bitter aufstößt. Der „Kanon“ (nur eine Machtfrage, nicht selten sogar Beziehungskisten) und die „Partitur“ (Kopfsache) versuchen immer mal wieder den „Bayer“ zum Schuhabputzer zu machen.
Anders jedoch die Menschen, die es schätzen, wie Entzücklika die Begegnung mit dem Auferstanden „übersetzt“. Zuhause lagern stapelweise Briefe, die Zeugnis geben, wie oft unsere Lieder Menschen ins Leben zurückgeholt haben. Das klingt furchtbar angeberisch, wie eine selbstgedrehte Erfolgsstory… Es ist aber vielmehr der Hintergrund, auf dem wir arbeiten können. Wir haben gelernt, dass wir hier einen Dienst tun. Wir verschönern nicht die Kirche, sondern wir bereiten Wege, öffnen Fenster, klopfen an Gräber, geben den Startschuss für das heilende Wunden.
Auf dem Weg bis da hin hatten wir prägende Begegnungen mit anderen NGL-ern wie Johannes Falk und Gregor Linßen (mischte unser Johannes XXIII.-Hörspiel). Schließlich gab es mehrere wunderschöne Begegnungen mit Pit Janssens (von dessen Stirnkuss meine Schwester heute noch schwärmt). Eine Begegnung, die schon den Samen für eine Zusammenarbeit (nach seinem Bach-Musikspiel) ausgesät hatte, der aber überraschend mit Pit Janssens vorzeitig starb. Heute erfreue ich mich besonders an der Freundschaft mit dem Kinderliedermacher Rolf Krenzer und seiner Frau Dagmar. Von Rolf habe ich viel lernen können und in die Arbeit mit meinem monatlichen Kinderliedersingtreff auf dem Michaelsberg einfließen lassen können. Ich versuche zur Zeit, einen Weg zu finden, Texte von Rolf Krenzer mit Melodien für ältere Kinder zu versehen. Kein leichtes Experiment, schließlich werden die Kinder mit wachsendem Alter von ihren eigenen MTV-genährten Ansprüchen regelrecht auseinandergerissen. Gut, dass es zum Zusammenhalten den Verein „Musica e vita“ gibt, mit dem mich inzwischen mehr als nur die gemeinsame Idee verbindet. Dort habe ich richtig liebe und nette Freunde gefunden, die gelegentlich als Veranstalter oder Gastmusiker mit Entzücklika auftreten.
Mit dem Ende der „liturgischen“ Anknüpfung von Entzücklika, begann die Arbeit mit Berufsmusikern aus der evangelischen Szene. Mit Michael Schütz und Hans Werner Scharnowski hat Entzücklika den CD-Sound völlig verändert. Schade eigentlich, dass diese Sounds in unseren Veranstaltungen schon allein wegen der Kostenfrage nicht durchführbar sind. So leben wir weiterhin damit, dass Entzücklika-Live und Entzücklika-CD immer zwei verschiedene Welten bleiben werden. Aber jede hat ihren eigenen Charme. Charme hat auch neuerdings die Zusammenarbeit mit Felix Schonauer, der wie kaum ein anderer die Geschichte des NGL’s seit den 60er-Jahren mit der eigenen Biografie verbindet. Seine Chorsätze über meine Lieder lassen mich immer wieder dahinschmelzen. Inzwischen kann ich auch wieder sentimental sein – oder mit nostalgischen Gefühlen die alten Janssens-Platten anhören. Als ich 2003 mit dem Jugendchor in der Osternacht auf dem Michaelsberg „Wenn das rote Meer grüne Welle hat“ anstimmte, meinte Max ganz locker: „Des macht voll Fun, hey, des Lied!“.
Ach, Ich liebe Schwäbisch!