Magazinarchiv: 1999

Zeitgeist oder Quälgeist (Teil 2)

Das Neue Geistliche Lied an der ältesten Kirchenmusikschule der Welt (Teil 1 im MeV-Mag 3/99)

Der folgende Artikel wurde für die Festschrift ‚125 Jahre Kirchenmusikschule Regensburg‘ von Franz Prechtl verfasst.

Neben diesen sehr tendenziösen Aussagen [s. Teil 1] lassen sich jedoch auch gewisse allgemeingültige und durchaus charakteristische Merkmale [für NGL] definieren:

1. Der religiöse Text, der ‚weniger konfessionell als allgemein christlich engagiert, humanitär bis politisch‘ (Schepping) sein kann, aber auch von ‚traditionell anmutender Frömmigkeit‘ sprechen kann und ‚oft bilderreich … Hoffnung auf eine von Gott geschenkte, neue, gerechte und friedvolle Welt von brüderlich handelnden Menschen‘ (Deckert) macht
2. Die Zugehörigkeit zur Gattung Lied, da ein Großteil formal und von der Melodieführung her sanglich und liedartig ist, meist in 8-taktigen Perioden gegliedert
3. Die stilistische Beeinflussung durch Popularmusik (Jazz, Rock Pop …), was sich vor allem
a) in der Melodik (8-taktige Phrasen, sanglich),
b) im Arrangement (Rhythmusgruppe und Bläser),
c) in der Harmonik ( II,V,I -Verbindungen, add2 und major7 – Akkorde, Sixte-ajouté) und
d) in der Rhythmik (Synkopen, ternär) zeigt
4.Die Funktionale Zugehörigkeit zum Kirchenlied im Sinne eines Liedes der Kirche, bei dem auch die Gemeinde mit einbezogen ist, sowohl innerhalb wie außerhalb des Kirchenraumes
5. Die Vermittlung durch Jugendchöre und Jugendbands, hauptsächlich aus dem Laienbereich (vgl. Fischer,1984)

Betrachten wir den religiös-textlichen Aspekt unter Punkt 1, so kann man hier verschiedene Sichtweisen aufzeigen. Werden in vielen kritischen Äußerungen über Texte im NGL die sprachliche Form, der Ausdruck und die Wortwahl bemängelt, inhaltliche wie theologische Schwächen und theologische Verfälschungen aufgedeckt oder gar ideologische Tendenzen unterstellt, so lassen sich auf der anderen Seite aber auch gewisse Vorteile nicht vom Tisch kehren. Da wäre zum einen die Möglichkeit, aktuelle Themen allgemeinverständlich darzustellen, zum anderen lassen sich neue theologische Sichtweisen in neuen Liedern eben leichter aufzeigen.

Was die musikalischen Inhalte unter Punkt 2 und 3 betrifft, so tritt wohl ein Vorwurf immer wieder in den Vordergrund: die mangelnde künstlerische Qualität der Komposition. Darüber hinaus werden der Hang zur Trivialität bis hin zu satztechnischen Fehlern und das unausgewogene Wort-Ton-Verhältnis in den Liedern kritisiert. Dem gegenüber aber steht die Tatsache, daß es sich um eine grundsätzliche Weiterentwicklung der Musica Sacra handelt, und zwar in einer Form, die ein Singen mit der Gemeinde leicht möglich macht, bedingt durch formale Anlagen wie Kanon, Strophenlieder mit ihren mannigfaltigen Aufführungsmöglichkeiten durch Chor und Gemeinde oder Refrainlieder für den Wechselgesang. Selbst an religiösen Singspielen kann die Gemeinde beteiligt werden und ist nicht nur passives Konzertpublikum.

Auch wenn es sich beim NGL, wie unter Punkt 4 angeführt, um Kirchen-Musik handelt, so wird doch immer wieder die grundsätzliche Unvereinbarkeit von Pop- oder Rockmusik und christlicher Liturgie in Frage gestellt. Für viele findet eine Zerstörung von Feierlichkeit statt, für andere wieder ist die Gottesdienstwerbung mit NGL ein Trugschluß.

Daß Jugendliche wegen dieser Art Musik in die Kirchen kommen, läßt sich sogar durch Umfrageergebnisse widerlegen. Erstaunlicherweise sind es überwiegend die 30- bis 50jährigen, die sich vom NGL angesprochen fühlen; wohl in erster Linie deshalb, weil sie mit dieser Gottesdienstmusik aufgewachsen sind. Trotz dieser Statistik werden jugendpastorale Aspekte von den Befürwortern des NGL immer wieder angeführt, da die Teilnahme an Jugendchor und Jugendband auch in das Gemeindeleben einbindet. (vgl. Fischer 1984,Deckert 1985)
Untersucht man die Definitionsversuche oder die formale Zuordnung genauer, so zeigt sich hier eine gewisse Grundproblematik des NGL. Ich möchte es einmal als Identifikationsproblem bezeichnen. Dabei ist die Absicht neuer Lieder, Lieder die auch dem Zeitgeist entsprechen wollen, ebenso einsichtig wie sinnvoll, wobei sich noch zeigen wird, ob deren Lebensdauer an den Zeitgeist gebunden ist. Das Deutsche Liturgische Institut formuliert es so: ‚Unter den Möglichkeiten zur tätigen Teilnahme aller kommt dem Gesang eine hervorragende Bedeutung zu. Es ist für die Mittler entscheidend, was und wie gesungen wird.‘ (vgl. Deutsch. Lit. Inst., Trier 1994)

Daß Einstellung und Motivation derer, die NGL im weitesten Sinne ‚machen‘, ehrlich sind, steht außer Frage. ‚Ein gesungenes (ein fetziges, ein gerocktes, ein spontanes, ein jauchzendes) ‚Halleluja‘ ist die ehrliche Variante eines vom Messbuch abgelesenes und mit erstickter Stimme im monotonen Unisono einer in der Ruhe gestörten Gemeinde herausgepressten ‚Hall-ö-luja‘. Ein gesungenes, mitgeklatschtes, womöglich getanztes Halleluja ist einfach erhebender…‘ schreibt Alexander Bayer, Theologe und Autor von NGL im MeV-Magazin und findet seine Begründung in einem Zitat von Papst Pius X.: ‚Die Gemeinde singt nicht im Gottesdienst, sondern sie singt den Gottesdienst.‘ (vgl. Bayer, 1998)

Wenn dem so ist, woher dann die Identifikationsprobleme, wenn im NGL doch Leben und Liturgie zeitgemäß zusammenfinden? Liegt es dann vielleicht an der mangelnden Qualität der ‚Macher‘ (Autor und Interpreten), oder genauer an der Art, wie es “rüberkommt‘. Wenn die Musik nur die Jugend als Zielgruppe sieht, ist sie dann in ihrer Akzeptanz nicht bereits eingeengt. Meine Praxis bestätigt mir: wenn ich das Publikum in einem Jazz- (oder Rock- oder NGL-)Konzert anschaue, sind das doch nicht nur Jugendliche. Wenn man also NGL singt und spielt, so geschieht dies für alle Alterschichten, was zur Folge hat, daß man es mit einer breiten Kritikerebene konfrontiert, was sich wiederum im dargebotenen Qualitätsanspruch äußern muß.

Kehren wir zurück zu MeV nach Ensdorf. Wie steht es nun um die musikalische Qualität derer, die das NGL zum besten geben. ‚Die Motivation stimmt, das Niveau ist erst einmal zweitrangig, das kriegst Du dann schon hin.‘ Mit diesen geradezu aufmunternden Worten schickte mich Jürgen Zach damals in den ersten Workshop. Und ich packte meine Unterlagen über die Unterschiede in den Latin-Styles und über komplizierte Akkordbezifferungen im Jazz schnell wieder weg, als mich nach dem Auflegen der ersten Overheadfolie eine Teilnehmerin fragte, was denn die Ziffer 7 bei der Harmonie C7 bedeute. Hier wird schnell klar, daß ein Hauptanliegen solcher Fortbildungskurse für Leute, die begeistert aktiv singen und Musik machen wollen, sein muß, die zum Großteil musikalischen Laien inhaltlich, musikalisch und technisch weiterzubringen. Gerade die mangelnde Fachlichkeit gibt, wie oben erwähnt, dem besagten Kirchenmusiker häufig Anlaß zur Kritik. Aber es gibt doch eine mangelnde Fachlichkeit der anderen die Hand, wenn der professionelle Kirchenmusiker nicht in der Lage ist, jungen MusikerInnen, die Spaß an der Musik haben und oft genug Autodidakten sind, sinnvolle und notwendige Unterstützung anzubieten.

Eine Arbeitsgruppe bei der überdiözesanen Fachtagung ‚Neues Geistliches Lied‘ auf Burg Feuerstein befaßte sich mit dem Spannungsfeld ‚Klassische Kirchenmusik und NGL‘. Dort wurde ein enger Zusammenhang zwischen NGL-Integration in der Gemeinde und dessen Akzeptanz durch den hauptamtlichen Kirchenmusiker festgestellt. Kritisiert werden mangelnde Erfahrungen mit Bands und entsprechenden Spieltechniken. So wurde dort ein Anforderungsprofil für alle Kirchenmusiker – die Ausgebildeten und die Laien, die Klassischen und die des NGL – entworfen:

Die /der KirchenmusikerIn sollte
interaktive Fähigkeiten haben, d.h. mit Gruppen (jedenAlters) arbeiten können, mit Kirchenchören genauso wie mit Jugendbands und einer Kinderschola,
musikalische Toleranz und Akzeptanz an den Tag legen, auch wenn die Musikrichtung nicht die eigene und bevorzugte ist …, einen Überblick über die Bedürfnisse des Chors, der Band, des Ensembles auf der einen und der Gemeinde auf der anderen Seite haben, um eine liturgische Integration bemüht sein, zur Relativierung von ‚Perfektion‘ fähig sein (Das Bestmögliche mit den zur Verfügung stehenden Personen und Mitteln erreichen! -d.h. auch: Abstriche machen…), zu ständigem Lernen bereit sein (auch technisch, liturgisch, pastoral!),
Basisarbeit mit allen Interessierten betreiben, auf eine sorgfältige Auswahl von Liedern bemüht sein …

Die daraus entstehenden Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen den Fachleuten der klassischen Kirchenmusik und den engagierten und oft jungen Aktiven der NGL könnten z.B. in gemeinsam gestalteten Gottesdiensten münden, in denen sich die Gruppen und die Lieder beider Richtungen zu einer für die Gemeinde fruchtbaren Einheit verbinden (Jürgen Zach, Protokoll zur Sitzung)

Ob das NGL dem Zeitgeist entspricht oder vielleicht schon in die Jahre gekommen ist, ist für uns als Kirchenmusikschule eigentlich nicht relevant. Wenn es den Zeitgeist wiederspiegelt, dann gilt für den Kirchenmusiker um so mehr der Auftrag, dafür Sorge zu tragen, daß es von qualifizierten Mitarbeitern in der Gemeinde ausgeführt wird. Daß sich die Aufführungen musikalisch wie textlich in einem liturgischen Rahmen bewegen, muß hierbei für wichtiger erachtet werden als die Professionalität der Darbietung.

Wenn das NGL in seiner bisherigen Form langsam bereits den Eindruck des Überholten erzeugt, dann ist die Chance für ein Ausbildungsinstitut noch größer, hier richtungsweisend mitzuwirken und eine Basis für neue, zeitgemäße Ideen in der Kirchenmusik zu schaffen. Zeitgemäß sein wollen, die Leute in den Kirchen begeistern und zusammen mit ihnen lebendigen Gottesdienst feiern – das sind wohl die erklärten Absichten des NGL und seiner Ausführenden. Auf dieser Ebene mitzuarbeiten, sich einer neuen Technik und einem neuen Intrumentarium nicht zu verschließen, das würde doch jedem Kirchenmusiker gut zu Gesicht stehen.

Vielleicht sollte ich mich mit dem eingangs erwähnten südbayerischen Kirchenmusiker in Verbindung setzen, um zu erfahren, ob seine Orgel nicht auch an eine Steckdose angeschlossen ist.


Franz Prechtl,
Jhrg. 1955, studierte Kirchenmusik an der Kirchenmusikschule Regensburg und Klavier
an der Musikhochschule Stuttgart.
Er ist seit 1983 Dozent an der KMS, unter anderem für Klavier und Popularmusik.
Er spielt als Pianist und Keyboarder in verschiedenen Jazz- und Rockensembles.


Quellen:
Fischer, Thomas, Zur Problematik des Neuen Geistlichen Liedes in seiner gottesdienslichen Funktion. Schriftliche Hausarbeit zur 1.Staatsprüfung für das Lehramt an der Primarstufe, Universität Düsseldorf, Abt. Neussd, Seminar für Musik und ihre Didaktik 1984
Deckert, Peter, Basisinformationen zum Neuen Geistlichen Lied, als Manuskript veröffentlicht, BDKJ-Diözesanstelle Köln, 1984 – 1994
Zach, Jürgen, Protokoll der Tagung ‚NGL und die klassische Kirchenmusik‘, 7. Bundestagung, Burg Feuerstein 1995
Zach, Jürgen, unveröffentlichtes Redemanuskript, Don-Bosco-Fest Ensdorf, 1989
Schepping, Wilhelm, Das religiöse Jugendlied in musikalischer und funktionales Perspektive, Düsseldorf, 1981
Schutzeichel, Harald, (Hg.), Mehr als Worte sagt ein Lied, Freiburg 1990
Deutsches Liturgisches Institut, Der Sachausschuß Liturgie – seine Aufgaben, Trier, 1994
Bayer, Alexander, Kommentar in ‚Musica e Vita – Magazin 1/98‘