Magazinarchiv: 2006

Katholikentagsrevue

Weitblick: Katholikentag


Fleißig wie ein Ameisenstaat hat Jochen Wiedemann die NGL-Veranstaltungen beim Katholikentag vorbereitet und durchgeführt.
Für den Verein zieht er eine persönliche Bilanz und macht uns Mut.

Neues Geistliches Lied vor Gottes Angesicht 96. Deutscher Katholikentag Saarbrücken 2006

Vor Dir stehen wir, um dir zu singen“ und „Du kommst zu uns“, so hießen die beiden Lieder zum Leitwort der 96. Deutschen Katholikentags, die der Veranstaltung vom 24. bis 28. Mai 2006 in Saarbrücken ein musikalisches Gesicht gaben.

Aber auch darüber hinaus hat das Neue Geistliche Lied in seinen vielen Ausprägungen den Katholikentag deutlich mitgeprägt. Das zeigte sich schon bei den großen Ereignissen wie der Eröffnung und den Hauptgottesdiensten, in denen Neue Geistliche Lieder ja schon seit einigen Jahren neben dem traditionellen Kirchliedern zum Repertoire gehören. Für den Abschlussgottesdienst war sogar eigens ein Chor aus Katholikentagsteilnehmern zusammengestellt worden, der bei hartnäckigem Regen mehrere Tage tapfer probte – im Gegensatz zur Altarinsel im Saarbrücker Stadion hatte man die beiden Chorbühnen nämlich nicht überdacht.
Wenigstens konnte der Gottesdienst selbst dann bei Sonnenschein stattfinden. Ob es allerdings aus pastoraler Perspektive sinnvoll war, nahezu die gesamte musikalische Gestaltung mit einem Werk wie der „Saarbrücker Messe“ zu bestreiten, sollte für zukünftige Katholikentage noch einmal überdacht werden.
Hier wurde der Fehler des Weltjugendtags 2005 wiederholt. Denn unabhängig von der musikalischen Qualität, die Thomas Gabriels Komposition ohne Zweifel aufweist, stellt sich die Frage, ob ein Gottesdienst durch die riesige Menge an neuen Liedern und Gesängen die Mitfeiernden nicht zwangsläufig auf das Zuhören einschränkt. Andererseits birgt ein Katholikentag die Chance, neue Lieder auch für den Einsatz in der Liturgie sehr schnell zu verbreiten, so dass man hoffen kann, das ein oder andere Lied aus Saarbrücken in den Gottesdiensten der Gemeinden vor Ort wieder zu finden.

Neben diesen großen Programmpunkten waren Neue Geistliche Lieder aber auch darüber hinaus immer und überall präsent – sei es beim Abend der Begegnung, Konzerten, Offenem Singen, oder Podienumrahmungen.
Durch Saarbrücken wanderten lebende „NGL-Musikboxen“, die Musikwünsche der Zuhörer erfüllten. Für Sangesfreudige gab es die Möglichkeit, in Spontanchöre einzustimmen. Eine Offene Bühne für NGL gab den musikalischen Passanten die Möglichkeit, vor einem größeren Publikum aufzutreten, wobei die hierfür notwendige Spontaneität und Improvisationsnotwendigkeit der Sache keinen Abbruch tat, sondern vielmehr zeigte, dass NGL auch ohne perfektionistischen Aufwand überzeugen kann.
Die Gruppe Habakuk wiederum musizierte beim Jam-Konzert zum Mitmachen, zusammen mit vielen begeisterten großen und kleinen Katholikentagsbesuchern. Hier hieß es „Jedes Instrument und jede Stimme ist willkommen“ – ein Wagnis, weil auch mit dem als Download zur Verfügung gestellten Notenmaterial nicht klar war, wie viele Instrumente von welcher Gattung sich hier zusammenfinden würden, aber ein Wagnis, das sich auf alle Fälle gelohnt hat:

Das Konzert hat den Mitwirkenden hörbar Spaß gemacht. Hier war eine Begeisterung für gemeinsames Musizieren Neuer Geistlicher Lieder spürbar, die auf Nachwuchs hoffen lässt. Voraussetzung ist natürlich, dass solche Veranstaltungen nicht auf Katholikentage beschränkt bleiben, sondern auch zwischen den Katholikentagen in größerer und kleinerer Form Nachahmer findet.

Für diejenigen, die sich über das Musizieren und Hören hinaus mit Neuen Geistlichen Liedern auseinandersetzen wollten, gab es zahlreiche Podien. Weil viele Auseinandersetzungen um die Beziehung zwischen dem Neuen Geistlichen Lied und der traditionellen Kirchenmusik in diözesanen Arbeitskreisen oder auf der jährlichen überdiözesanen Fachtagung für NGL stattfinden, nutze man den Katholikentag dazu, den derzeitigen Diskussionsstand einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen. „Ist das NGL tot?“ fragten sich Kirchenmusiker Prof. Dr. Wolfgang Bretschneider, der Referent für musisch-kulturelle Bildung an der Arbeitsstelle für Jugendseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz in Düsseldorf Dr. Peter Hahnen, der Texter Dr. Thomas Laubach sowie die Kirchenmusikerin Charlotte Jansen unter der Moderation von Rafael Klar. Während Bretschneider seine titelgebende Frage mit der Feststellung begründete, dass vieles im NGL ja von Jugendlichen bereits als alt angesehen werde, stellte Hahnen deutlich klar, dass der Sammelbegriff „Neues Geistliches Lied“ natürlich seine Problematik habe, sich diese Musik und diese Texte aber nie als altersgruppenspezifisch verstanden hätten und nach wie vor jedes Jahr zahlreiche Neuveröffentlichungen beweisen, dass das Neue Geistliche Lied zumindest auf Seiten der Kreativen nicht stehen geblieben ist. Laubach stellt die Trennung zwischen traditioneller Kirchenmusik und Neuem Geistlichen Lied generell in frage, da es immer neue Lieder in der Kirche gab und forderte auf, sich gegen den Trend einer „Re-ritualisierung“ auch musikalisch zu wenden, die sich anstelle kritisch zu fragen, welche Art von Musik und Text wir heute brauchen einfach auf bereits Vorhandenes zurückbesinnt, ob dies nun der Lebendigkeit der Kirche dient oder nicht. In diesem Spannungsfeld sieht sich Charlotte Jansen als Kirchenmusikerin stehen, weil die Praxis häufig der Quadratur des Kreises gleichkomme: generationsübergreifend, alltagstauglich, aber trotzdem in Ausführung wie inhaltlich qualitativ hochwertig soll es sein. Es zeigte sich, dass der Streit zwischen „neu“ und „alt“ ein Symptom einer größeren Krise der Kirche ist. So wurde Offenheit und Begeisterung sowohl für Altes als auch für Neues als Maßstab gefordert, nicht allein fragwürdige Qualitätsstandards, die ja auch nur historisch bedingt sind.

Ganz dem Leitwort „Gerechtigkeit vor Gottes Angesicht“ sah sich das Podium „Der Gerechtigkeit eine (Gesangs-)Stimme geben – Haben Neue Geistliche Lieder heute noch etwas zu sagen?“ verpflichtet.

Die Germanistin Monika Cajkovac sowie die Texter Franz-Josef Ruwe und Raimund Weber untersuchten zusammen mit Moderator Jochen Wiedemann Texte Neuer Geistlicher Lieder von den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts bis heute.

Dabei ging es sowohl unterhaltsam wie kritisch zu. Die Lieder wurden live und gekonnt am Klavier präsentiert von Norbert Becker, was einen unmittelbaren Zugang ermöglichte. Cajkovacs gründliche Textanalysen, Ruwes pointierte kritische Anfragen an die (un-)politische Dimension und Webers umfangreiche Geschichts- und Sachkenntnis zum NGL zeigten das Phänomen „politisches“ Neues geistliches Lied in seiner Tiefe und Breite auf. Von explizit politischen Programmansagen wie in „Das könnte den Herren der Welt ja so passen“ (Marti/Janssens) über den politischen oft verdeckten Sprengstoff in den Seligpreisungen – „Selig seid ihr“ (Barth/Horst/Janssens/Weber) – der Fassungslosigkeit gegenüber dem Terror des 11. Septembers – „Gott will es“ (Linßen) – bis hin zu biblisch akzentuierten Analysen aktueller Probleme – „Arbeitslosigkeit im Weinberg des neuen Herrn“ (Ruwe/Hoppermann) – gab es und gibt es auch weiterhin Neue Geistliche Lieder, die sich nicht mit einer frommen spirituellen Kuschelecke zufrieden geben und klare Ansagen an die Zeit machen. Die „Haltbarkeit“ der Lieder scheint dabei weniger eine Frage des Inhalts als eher der Form zu sein. Trotzdem sind ältere Lieder mit solchen Aussagen, vor allem die NGL-Friedenslieder, weit stärker verbreitet als ihre jüngeren Geschwister. Das mag zum einen daran liegen, dass politische Lieder im NGL weitgehend thematisch orientierte Lieder sind, die im liturgischen Bereich deshalb eher selten zum Zuge kommen als bei Liedern zum Kyrie, Gloria oder Sanctus der Fall ist, was natürlich auch Auswirkung auf die Repertoirebildung hat. Andererseits sind auch die „Multiplikatoren“, die Chöre und Bands von Phänomenen wie der „Politikverdrossenheit“ betroffen. Lieder zu einem Thema wie „Gerechtigkeit“ glaubwürdig zu singen, erfordert inhaltliche Auseinandersetzungen, und erfordert Mut, den wir aber als Christen auch an den Tag legen sollten. Schließlich ist Jesu Botschaft vom Reich Gottes mehr als nur ein „wir haben uns alle lieb“.
Und so bleibt zu hoffen, dass dieses Podium auch auf den folgenden Katholikentagen Fortsetzungsveranstaltungen finden wird, um sich kritisch mit Liedern und Aussagen auseinanderzusetzen.

Es gab beim vom Katholikentag ausgeschriebenen Wettbewerb mehr als nur zwei Einsendungen. Um die Bandbreite der eingereichten Beiträge zumindest exemplarisch aufzeigen zu können, wurde der Publikumspreis zum Katholikentagslied in Saarbrücken bereits ein zweites Mal durchgeführt. Moderiert von Andrea Monreal und Christian Turrey stellte die Band Aschira aus Meppen mitreißend die sechs Titel vor, die von der Jury des Wettbewerbs in die engere Wahl gezogen worden waren. Dazwischen gab es Interviews mit den anwesenden Liedautoren und der ausführenden Band Aschira und mit Raymund Weber, der dem Publikum die Vorgehensweise der Jury erklärte. Nach einem abschließenden Kurzdurchlauf kam es zur Abstimmung per „Applausometer“. Jeweils 10 Sekunden lang hatte das Publikum die Möglichkeit, mittels Lautstärke seine Zustimmung zu jedem der Titel zu zeigen. Die Auswertung (mit Trommelwirbel, Tusch und wachsenden Balkendiagrammen) offenbarte, dass es dem Publikum schwer gefallen war, sich zu entscheiden, so eng beieinander lagen die Messwerte.

Gewonnen hat das Lied „Vor dir stehen wir“ von Gregor Linßen, der anschließend seinen „Preis“ entgegennehmen durfte. In seiner Dankesrede betonte er, dass alle sechs Lieder die Qualität hatten, dass sie gut in eine der großen Veranstaltung als Hauptlied gepasst hätten. Selbstverständlich ist der Publikumspreis eher mit einem Augenzwinkern zu sehen, geht es doch in erster Linie darum, den Wettbewerbsbeiträgen ein breiteres Forum zu geben und einen „Schnappschuss“ des aktuellen Neuen Geistlichen Liedes vorzustellen. Das ist auf jeden Fall gelungen.

Natürlich gab es noch viele Veranstaltungen mehr, die sich mit dem Neuen Geistlichen Lied auseinandersetzten. „Neues Geistliches Lied – hautnah“ bot Peter Hahnen wie schon zwei Jahre zuvor in Ulm eine Werkschau im Gespräch mit NGL-Kreativen, „NGL international – Wie singt man Gottes Lob auf französisch“ lud der Übersetzer Hans Florenz zu einer musikalischen Reise über die benachbarte Grenze ein, und selbstverständlich waren da die Räumlichkeiten des Forums „Kirchenmusik und Liturgie mit Werkstatt Neues Geistliches Lied“.

Allein der hier gebotene Platz sowie die Tatsache, dass der Verfasser dieser Zeilen nicht überall sein konnte, verhindert, auf alles
einzugehen. Bleibt festzustellen, dass der Katholikentag in Saarbrücken für NGL-Interessierte viel Lohnenswertes zu bieten hatte. Das wird hoffentlich auch in zwei Jahren in Osnabrück wieder so sein.

Jochen Wiedemann


Erscheinungs-Informationen

Magazin-Ausgabe: Der Papst unter Polyphonen auf Seite 10

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