Magazinarchiv: 2003

NGL schafft musikalische Zugänge zur Bibel

Gregor Linßen


Aus: Vortrag vom 19.9.1998 im Maternushaus, Köln

2003 ist das Jahr der Bibel. Getragen wird die Aktion „2003 Das Jahr der Bibel‘ von allen Kirchen, die in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland zusammengeschlossen sind, und den christlichen Werken und Verbänden (www.jahrderbibel.de).

Biblische Themen ziehen sich -naturgemäß – durch viele Neue Geistliche Lieder. Darüber intensiver Gedanken gemacht hat sich Gregor Linßen, bekannt vom MeV-Total-Wochenende 2001:

Als Liedermacher von geistlichen Liedern sehe ich das Thema „Musikalische Zugänge zur Bibel‘ als Grundlage meines Schaffens. Mein Anliegen ist es, die Frohe Botschaft, und somit auch die Bibel zu Gehör zu bringen und zwar mit den Mitteln der Musik.
Das Erleben von Musik ist und bleibt unlösbar mit dem Menschen verbunden, der es erlebt. Insofern erzeugt das Hören von Musik eine angenehme oder unangenehme Empfindung, die dann subjektiv bewertet wird.

Was den Inhalt der Musik betrifft, so möchte ich fünf Kategorien unterscheiden:

1. Musik, die nur für sich existiert, ohne dass man ihr einen Sinn geben kann. Also „L’art pour l’art‘ – Kunst um der Kunst Willen.

2. Musik, die für einen bestimmten Zweck geschrieben ist, zum Beispiel eine Ouvertüre, die die musikalischen Motive aus dem folgenden Werk vorstellen soll.

3. Musik, die Atmosphäre erzeugen soll, beispielsweise die Musik zum Einzug des Königs

4. Musik, die ohne Worte die Vorstellung eines Bildes oder einer Geschichte beschreibt, deren Inhalt der Hörer kennt.

5. Musik, deren Aufgabe die atmosphärische Unterstützung eines wörtlich vorgetragenen Inhalts ist, also ein Lied.

Die ersten zwei Arten von Musik sind in diesem Exkurs nicht relevant.
Die Aufgabe von Musik, eine Atmosphäre zu schaffen, die die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Punkt lenkt, gehört schon eher zum Thema.

zu 3.
Das Manko, dass sich Musik letztendlich der Verstandesebene entzieht, ist hier von Vorteil. Denn Musik hat dadurch einen direkten Zugang zum Gefühl. Das haben auch unsere Marktstrategen erkannt und deshalb werden wir überall in den Kaufhäusern mit Musik berieselt. Was das genau bewirken soll, weiß ich auch nicht, aber es soll mir ja auch nicht bewusst werden.

Der bewusste Einsatz von Musik kann zum Beispiel bewirken, dass der Zuhörer den Hals reckt, um zu sehen, was jetzt passiert.
Oder – geeignete Musik kann eine Atmospäre gezielt beruhigen. Allerdings muß sich derjenige, der die Musik macht, der Aufgabe genau bewusst sein. Musik nur zur Untermalung oder zur Überdeckung des Klingelbeutels kann und wird – wenn überhaupt – negativ wirken. Manchmal ist Stille die geeignetere Musik.
Einen bestimmten Inhalt hat diese Art von Musik noch nicht.

zu 4.
Dass Musik einen Inhalt ohne Worte übertragen kann, steht für mich außer Frage. Aber im Vergleich zu Worten, hat bei Musik die Phantasie bei der Ausdeutung des Inhalts einen größeren Spielraum. Worte legen den Inhalt weitestgehend fest. Man kann vielleicht noch etwas „zwischen den Zeilen lesen‘, etwas, was nicht eindeutig gesagt war. Bei Musik ist es genau andersherum: Nur etwas, was vorher eindeutig als Inhalt bekannt war, kann von allen gleich verstanden werden. Alles andere ist dem Vorstellungsvermögen des Hörers überlassen. Musik bietet wunderbare Möglichkeiten, einen Text lebendig werden zu lassen. Die Kombination aus Text und Musik in der Form, ein Text vorzulesen und eine Musik erklingt dazu, kann Worte und Geschichten plastisch machen.

Ein Beispiel? Sergei Prokoffievs Tondichtung „Peter und der Wolf‘.
Der Text: Peter ist auf die große Wiese vor dem Haus gegangen. Auf einem hohen Baum sitzt sein Freund, der Vogel. „Wie still und friedlich es ist‘, zwitschert er fröhlich.

Dieser Text ist jetzt nicht die große literarische Offenbarung, aber wer sich darauf einlässt, erfährt eine Ausweitung, durch die Umschreibung mit Musik.
Nun – Peter und der Wolf ist wohl eher nicht-biblisch. Ich weiß auch nicht, aus welcher apokryphen Quelle Prokoffiev diesen Text hat. Aber die Wirkung ist doch verblüffend, wie die wenigen Worte durch die Musik in der Vorstellung lebendig werden.

Diese Wirkung hat auch ihre Grenzen. Je mehr Worte den Inhalt beschreiben, desto weniger Platz ist für die Phantasie und desto schwieriger ist es, Musik zum Inhalt zu entwickeln oder zu improvisieren. Programmmusik, wie diese Form der Musik bezeichnet wird, lebt also auch von der Freiheit, die ihr noch zur Interpretation der Worte gegeben ist. Wenn zu den Grenzen, die die Worte ziehen, auch noch die musikalisch-formalen Grenzen gezogen werden – Dur, Moll (und vor allem kein Schlagzeug!) – wird eine musikalische Ausdeutung fast unmöglich.

Dennoch kann die musikalische Arbeit an weitgehend festlegenden Texten immer noch sinnvoll sein. Ich denke z.B. an vergangene Schulendtage, bei denen mit einer Gruppe von Schülern die Geschichte von Hiob musikalisch erarbeitet wurde. Am Anfang stand die Geschichte, deren Inhalt die Schüler im Religionsuntericht durchgenommen hatten. Der erste Schritt war dann, Abschnitte im Bezug auf die in der Geschichte enthaltenen Stimmungen zu bilden, um im zweiten Schritt diese Stimmungen in Musik auszudrücken. Das Ergebnis hätte kompositorischen Kriterien wohl kaum standgehalten. Aber die Schüler mussten sich in Hiob hineindenken, wie es ihm wohl gegangen sein mag.

Und mehr noch: sie mußten es in ihrer Musik nachempfinden. Sie wählten beispielsweise als musikalisches Thema für die glückliche Stimmung das Lied „What a wonderful world‘. Dieses ruhige und sanfte Lied wurde dann immer wieder von bedrohlicher Musik unterbrochen. Die Schüler äußerten sich später dazu, dass sie es als brutal empfunden haben, das Lied in seiner Schönheit so zu stören. Ich glaube, dass sie sich in ein paar Jahren eher durch die Musik an den Inhalt der Hiob-Geschichte erinnern werden, als durch die textliche Erarbeitung. Das ist auch ein Wert eines musikalischen Zugangs zu einem Text, in diesem Fall zu einem Bibeltext.

zu 5.
Musik, deren Aufgabe die atmosphärische Unterstützung eines wörtlich vorgetragenen Inhalts ist, also ein Lied.
Die Musik hat hier nicht mehr die Aufgabe den Inhalt zu transportieren, sondern die Worte zu unterstützen oder zumindest die Grundstimmung des Textes zu verstärken. Lieder können an dieser Aufgabe auch scheitern. Die Grundstimmung der Musik muß mit der des Textes übereinstimmen. Die Musik eines traurigen Liedtextes kann beispielsweise kein hektisches Tempo haben.
Für mich steht beim Lied der Text im Vordergrund. Ein Grundsatz, der schon für die Gregorianik galt. Allerdings schöpft die Gregorianik in ihrer Schlichtheit bewusst nur einen kleinen Teil der musikalischen Vielfalt aus. Damit entgeht sie von vornherein der Gefahr, dass sich die Musik über den Text legt, statt ihn zu unterstützen.

Dies ist auch das Kriterium, das an ein Lied zur liturgischen Verwendung gelegt werden soll.
Zitat Augustinus:
„… so schwanke ich denn hin und her, bald die Gefahr der Ergötzung bedenkend, bald die selbst erfahrene Ersprießlichkeit; mehr aber neige ich dazu … den herkömmlichen Gesang der Kirche zu billigen in der Meinung, dass durch die Freude, welche die Ohren empfinden, schwächere Gemüter zu frommen Empfindungen angeregt werden können. Trotzdem bekenne ich, dass ich … Strafe verdiene, wenn mich, wie es je geschehen mag, mehr der Gesang bewegt als die Sache, welcher der Gesang gilt…‘

Drei Punkte aus diesem Zitat erscheinen mir wichtig.
1. Die Freude, die die Ohren empfinden
2. die Möglichkeit, „schwächere‘ Gemüter zu erreichen
3. die Gefahr, dass über die Musik der Inhalt in den Hintergrund gedrängt wird.

Zuerst mal zur Gefahr.
Dieser Gefahr ist ein Lied, egal welcher Epoche, ausgesetzt.
Wie oft wird ein unbekanntes Gottesloblied an den Noten klebend gesungen und ein bekanntes geschmettert (der Text wird schon für meine Lebenssituation in Ordnung sein und außerdem singt mein Nachbar ja auch mit, oder auch nicht).
Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Chance von Musik – dass der Mitsingende über die Gebete hinaus noch stärker Teil des Gottesdienstes wird – nicht wahrgenommen wird.

Allerdings entsteht die angesprochene Gefahr auch aus dieser Chance. Ein Lied soll vor allem für eine Gemeinde singbar sein. Melodie und Rhythmus sollen dementsprechend einfach sein. Ein zweischneidiges Schwert. Ist das Lied zu kompliziert, singt keiner mit. Ist das Lied zum Gassenhauer angelegt, wird die Melodie leicht zum Selbstläufer und der Text unwichtig. Ein Beispiel dazu:
Von guten Mächten wunderbar geborgen im Dreivierteltakt geschunkelt.

Dann gibt es noch weitere Kriterien, z.B. Textverteilung und Atmosphäre. Ein Lied, dessen Textverteilung in der meist gesungenen Version nicht gelungen ist: das Calypso-Vater-Unser. Aber das Lied wird gerne gesungen, weil es a) bekannt, b) leicht mitzusingen und c) weil es überhaupt einfach schön ist. Dieses Problem stellt sich vor allem bei Übersetzungen oder musikalischen Anleihen. Der natürliche Sprachrhythmus wird in ein vorhandenes musikalisches Gerüst gepresst. Das geht selten gut.

Ein Text hat schon Melodie und Rhythmus. Die Musik eines Liedes darf diese Grundelemente nur bis zu einem gewissen Grad verändern. Daher eignen sich auch nicht alle Texte zum Vertonen. Ein guter Liedtext hat das Metrum in sich.
Musik bietet noch eine weitere Chance. Sie kann den Sinn eines Textes deutlicher machen, indem sie bewusst Betonungen legt. An einem Beispiel soll dies klar werden. Ein Kanon, dessen Text sie schon blind, rückwärts und im Schlaf können.
„Herr, ich bin nicht würdig, dass Du eingehst unter mein Dach. Aber sprich nur ein Wort (mit einer kleinen Änderung) und meine Seele wird gesund.‘
Mit der Musik kann ich jetzt bestimmte Aussagen verstärken. Es ist nicht verwunderlich, dass Jesus in Karpharnaum irgendwo in ein Haus geht. Es ist bemerkenswert, dass er zu diesem Hauptmann geht. Das wichtige Wort, dass der Hauptmann spricht ist also „mein‘.

Oder – es ist logisch, dass Jesus in Worten redet, wenn er redet. Wunderbar ist, dass ein Wort reicht, um das Leben dieses Hauptmanns mit Heil zu erfüllen. Also: sprich nur ein Wort.

Wenn ich diese beiden Worte stärker als üblich betone, ändere ich den Rhythmus. Die betonten Silben sind verlängert.

Damit ist der Rhythmus des Kanons festgelegt. Der letzte Halbsatz wird dann noch einmal wiederholt, um die Form des Kanons zu Ende zu bringen „meine Seele wird gesund‘.